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Polizeiassistentin Theresa Julander hatte immer noch das Sagen, obwohl inzwischen ein weiteres Dutzend Polizisten angekommen waren. Der schwere Kerl mit dem Namen Örjan hätte bei seinem Rang eigentlich den Ton angeben müssen. Dennoch stand er lieber an der Kreuzung und organisierte die Straßensperre. Anscheinend spürte er, dass Theresa wegen ihrer frühen Ankunft die Sache besser überblickte als er.

Theresa streute die Polizisten über das Gelände, um neue Zeugen aufzunehmen. Es war wichtig zu erfahren, woher die Frau vor dem Zusammenstoß gekommen war, glaubte sie, jedenfalls fiel ihr nichts ein, was man sonst noch herausfinden könnte. Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie die beiden Sanitäter in ihren gelben Jacken das Mädchen zum Rettungswagen trugen. Ihr dunkelblondes Haar hing von der Bahre herab.

Den Gedanken, dass das Mädchen und die Tote irgendwie zusammengehören könnten, gab Theresa gleich wieder auf. Weil Aussehen, Kleidung und Alter der beiden Unfallopfer so weit auseinanderlagen, waren sie bestimmt nicht miteinander verwandt. Alles deutete eher darauf hin, dass die beiden sich zufällig über den Weg gelaufen waren. Das Mädchen war kaum älter als dreizehn und trug die bei ihren Stockholmer Altersgenossinnen übliche Kleidung, sehr enge Jeans und heruntergekommene Basketballschuhe, während die Frau auf zurückhaltende Weise elegant gekleidet war und gute fünfzehn Jahre älter sein musste als das Mädchen.

Die Sanitäter schoben die Bahre in den Rettungswagen. Das Mädchen rührte sich nicht. Anscheinend war sie nicht bei Bewusstsein.

Einsatzleiter Örjan hatte die beiden Streifenwagen soeben für eine Straßensperre in Position gebracht, als ein weißer Transit von der Odengatan in den Sveavägen einbiegen wollte. Mit Licht und Hupe brachte der Fahrer alle dazu, sich zu ihm umzudrehen. Örjan marschierte zum Fenster an der Fahrerseite und gab nach einer Sekunde den Befehl, die Straßensperre zu öffnen. Der Wagen fuhr in den gesperrten Bereich und blieb nach einigen Metern mit laufendem Motor stehen. Theresa ging als einzige auf den Wagen zu. Der Fahrer öffnete zwar die Tür, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Laute Rockmusik kam aus dem Inneren des Wagens. Am Steuer saß Per Arrelöv, der Chef der Tatorttechnik. Theresa hatte ihn im letzten Sommer kennengelernt, während sie für einige Tage zur Reichsmordkommission abkommandiert gewesen war und mit Per jede verdammte Wohnung in Skarpnäck kontrollierte, auf der Suche nach der verschwundenen Tochter des Justizkanzlers Rosenfeldt.

Pers Mitarbeiter kletterte vom Beifahrersitz und klappte die Flügeltüren am Fond auf. Per jedoch blieb reglos sitzen. Erst eine halbe Minute später riss er sich den Kopfhörer seines Telefons aus dem Ohr und stemmte sich aus dem Wagen.

„Hallo Per!“

Per wandte sich erstaunt um und musterte sie. „Theresa Julander. Du bist schöner als der Sonnenuntergang auf Värmdö.“

Theresas Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln. Sie war noch keinem in Vergessenheit geraten.

Per streckte sich in das Innere des Wagens und zog eine Tasche vom Sitz. Damit steuerte er zielstrebig auf die Frau zu. Während das Mädchen schon auf dem Weg ins Krankenhaus war, lag die tote Frau unverändert unter dem Abdecktuch auf der Straße. Vier Polizistinnen drückten die Ecken des Tuchs zu Boden und kämpften gegen den Wind. Dem Cheftechniker genügte ein kurzer Blick. Um den Körper der Toten hatte sich eine Kontur aus Kirschblüten und Pollenhaufen gebildet. Der Cheftechniker tippte den grauweißrosafarbenen Flaum mit der Schuhspitze an und seufzte.

„Per, kann ich dir etwas sagen?“, fragte Theresa und deutete die leichte Drehung seines Kopfes als Erlaubnis.

Mit vier Sätzen schilderte sie die Lage. Per legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die schwarzen Wolken. Vom Himmel kam ein Grummeln.

„Komm mit“, befahl er und kehrte mit Theresa zum Wagen zurück, wo sein riesiger und schlaksiger Assistent immer noch auf der Ladefläche hantierte. Er sprach ihn mit Lasse an und deutete auf die Stelle jenseits der Kreuzung, wo nach Theresas Bericht der Unfallwagen vor dem Zusammenprall einige Minuten lang die rechte Fahrspur blockiert hatte. Dies behaupteten jedenfalls die Zeugen, die Theresa in den letzten zwanzig Minuten aufgegabelt hatte. Lasse griff nach zwei Aluminiumkoffern und lief zur Kreuzung.

Theresa zog das Kuvert unter ihrer Jacke hervor, das sie in eine Tüte von 7-Eleven gewickelt hatte. „Kannst du das hier gleich prüfen?“

Per lugte in die Tüte. „Später. Wir müssen draußen fertig sein, bevor der Regen kommt. Leg es da hin.“

„Sie ist vielleicht wegen dieses Kuverts überfahren worden. Es gibt da eigenartige Hinweise von den Zeugen. Und draußen laufen noch eine Menge Leute herum.“

Per nahm die Tüte, kletterte ins Wageninnere und verstaute sie in einem verschließbaren Kasten. Dann sortierte er die benötigten Geräte in solche, die Theresa tragen konnte, auch wenn sie eine Frau war, und in solche, die zu teuer oder empfindlich waren, um sie einer Frau anzuvertrauen. Sie griff zu und folgte ihm. Zu ihrem Erstaunen interessierte sich Per gar nicht für die Leiche, sondern ließ sich von Theresa die Stelle zeigen, wo sich der Zusammenprall ereignet hatte. Sie musste eine Lampe mit pinkfarbenem Licht auf den Boden richten, während Per mit seinem hochauflösenden „Infrarotbaby“ den Asphalt zwischen den geparkten Autos fotografierte. Dann kniete er sich hin und suchte mit der Taschenlampe den Boden unter den Fahrzeugen ab.

Ein weiterer Streifenwagen kam die Odengatan herabgefahren und bremste scharf. Eine Frau mit rotblonden Haaren sprang von der Rückbank und steuerte geradewegs auf Theresa und Per zu.

Es war Barbro Setterlind von der Reichsmord. Sie hatte langes, rötliches Haar und war unverwechselbar.

„Theresa?“, fragte Barbro aus einigen Metern Entfernung. „Bist du es wirklich?“

Theresa winkte und lächelte.

„Ist ja lange her“, sagte Barbro. „Wie geht’s dir?“

„Jämmerlich“, gab Theresa zur Antwort und deutete auf ihre Kollegen aus Norrmalm, die mit Kaffeebechern in den Händen vor dem 7-Eleven herumlungerten.

„Jeder fängt bei der Schutzpolizei an“, antwortete Barbro und winkte Örjan herbei. Sie gab Anweisung, die Sperre für die Fußgänger sofort aufzuheben. Verwundert nickte Örjan und ging los.

Barbro wandte sich wieder an Theresa. „Wo ist das Kuvert?“

Theresa deutete zum Transit. Sie stiegen in den Laderaum und schlossen die Türen hinter sich. Barbro schlüpfte in ein Paar Gummihandschuhe und öffnete die Kiste.

Prüfend hielt sie das Kuvert gegen die Deckenleuchte, betastete den Kunststoff und die Verschlussklappe. Während dieser Zeit erstattete Theresa ihren Bericht. Barbro Setterlind blickte skeptisch drein.

„Worum geht es?“, wollte Theresa wissen.

„Das darf ich dir leider nicht sagen. Du bist Schutzpolizistin.“

„Sie ist Diplomatin, oder? Habt ihr Hinweise, wer sie sein könnte?“

Barbro schüttelte den Kopf.

„Keine gute Sache für Schweden, wenn es seine diplomatischen Gäste nicht beschützen kann.“

„Kluges Mädchen.“

„Wir hatten das Wiener Abkommen in der Ausbildung.“

„Dann weißt du sicher auch, vor welchem Problem wir jetzt stehen. Ihr habt also nicht das Geringste bei der Frau gefunden, was auf ihre Identität oder wenigstens auf ihre Herkunft hinweist?“

„Nicht mal unter den parkenden Autos. Im Laden hat sie bar bezahlt.“

Draußen donnerte es laut. Kurz darauf wurde die Flügeltür aufgerissen.

„Theresa!“, rief Per. „Du musst mir jetzt helfen.“ Er kletterte auf die Ladefläche und zog einen Kasten aus dem Stauregal. „Du nimmst dir diese Kamera und knipst um dein Leben. Am besten gehst du hinauf zur Bibliothek. Von dort oben kannst du alles überblicken.“

Theresa nickte.

Barbro nahm ihr Telefon aus der Tasche und sprach mit der Zentrale. „Schickt mir die Unterlagen ins Büro“, sagte sie und hielt dann die Hand auf die Sprechmuschel. „Per, ich brauche ein Porträt von der Toten.“

„Du musst auf die Pathologie warten“, brummte Per. Er war noch dabei, Theresa ein anderes Objektiv auf die Kamera zu schrauben. „Das Gesicht ist verletzt und blutig.“

„… und einen von den Pathologen in den Retziusvägen“, sagte Barbro wieder ins Telefon. „Ich bekomme mein Team nicht zusammen. Könnt ihr einen Wagen nach Reimersholme zu Kjell Cederström schicken? Wenn dort niemand ist, könnt ihr es in der Drottninggatan 73 versuchen. Antiquariat Florén. Und zudem brauche ich Sofi Johansson aus der Tengdahlsgatan 18. Das liegt bei der Sofiaskolan in Söder. Ihr müsst lange klingeln, vielleicht schläft sie. Wenn sie nicht da ist, soll der Wagen warten.“

03 - Der kopflose Engel
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